Johanna Peltner-Rambeck
Prosa”Erzählen hat mit dem Erinnern zu tun und das Erinnern mit Vergessenkönnen und Wiederfinden – mit dem langsamen Einfallen.”
(Peter Bichsel)
Unser Garten in
Poggio San Marcello
Dieser Garten liegt im Steilhang, sieht man vom Haus hinunter auf ihn, sieht er aus, als wäre es hier immer schon so gewesen, wie es jetzt ist. Dabei braucht der Garten stets aufs Neue Hände und Verstand, Sense, Sichel und Schere, auch Körbe, um Abgeschnittenes, Eingesammeltes über die Kompost-Rampe ins Ungewisse fallen zu lassen.
Am schönsten ist der Garten, wenn der Blick über ihn in die Weite gleitet, es scheint alles in einer wunderbaren Ordnung zu liegen, hin, bis zum schmalen Band des Meeres.
Da ist der Garten vergessen und doch ist er da. Ohne ihn wäre das Haus dem Außen ausgeliefert, alles Unbekannte käme bis ans Haus gekrochen, man könnte sich nicht sicher sein, ob es wohlgesonnen wäre.
Der Garten ist ein Mittler. Über den Gartenzaun am Straßenbogen fliegen manchmal Grussworte, her und hin und her, Lachen, Mitgefühl, Bedauern, Versichern. So kann der Garten innen sein und erst über dem Zaum ist das Draußen, obwohl das Gefühl einer Grenze kurz nicht spürbar war.
Wenn dann Wind aufkommt, ist der Garten Innen und Außen gleichermaßen und diese Unklarheit drängt zur Entscheidung. Draußen sein und die Begegnung mit dem Wind genießen, draußen sein und das Fremde heranlassen, aushalten. Oder vielleicht draußen sein und alles nach innen tragen wollen, damit kein Schaden entsteht. Die Schwelle erfordert Entscheidung, auf der Schwelle kann man keine Ruhe finden.
Ist man im Haus, hört man bisweilen den Garten rufen. Was er ruft, klingt nach Frau Holle: „Mähe mich, schneide Verblühtes aus, kehre meine Treppe!“ Brave Töchter tun, was er anmahnt. Sie tun es, weil es ansteht, weil die Vernunft sich gegen den Wildwuchs stellt, weil sie ruhig werden im Tun, ruhig, weil sie nicht selbst Projekte beginnen müssen, der Garten will nichts als Erhaltung und Pflege. Blühen kann er selbst.
Er ist es, der mit den Wettern spricht, trotzdem knickt ihm der Sturm große Äste, wirft ihm Holz auf den Rasen. „Sägen und räumen“ ruft er und bietet dafür eine Bank nach getaner Arbeit.
Eine Bank im Rosengebüsch. Dort, falls es schon dämmert, umspannt sich der Garten gerne mit Wehmut, mit sehnsüchtigen melodischen Fragmenten aus Schubert-Liedern. Aus dem Fastdunklen, holt der Garten, im Stil alter Meister, Licht aus den Rosen, zieht seine Natur zurück zu Gunsten von Träumen. Die Bank lässt er schweben, die Fußsohlen spüren weder Boden noch Schuh. Wesen schauen aus seinen Bäumen und Vögel üben das Paraphrasieren, kopfüber.
Wer da bleibt, den schickt der Garten vielleicht auf die Reise. Ist nicht Alice auch durch ein Baumloch gekrabbelt? Ja, tönen die Kröten und Grillen bauen Escher-Leitern nach unten, nach oben in eine verdrehte Welt.
Wenn es raschelt am Boden, wenn das Laub ein Tierchen verrät, taucht aus Kindertagen die Geschichte einer braven Landmaus auf. Mäusehäuschen mit erdigen Wänden, Mäuschenbett für sieben Kinder und zu essen gibt es fast nichts. Da muss die gute Maus bettelnd die Stadtmaus besuchen und soviel Gefahr! Maus, hier im Garten gibt es auch wilde Katzen und Nattern. Natur ist Natur, auch im bestellten Land, ein Ende ist immer endgültig . Weiter geht es nur mit Erde, mit Wasser aufsteigend, herabfallend.
Hohenburg 1960
Fast zu hoch sind die Stufen des Regionalzuges, um ihn mit einem Koffer und einer Schulmappe zu besteigen, die Nachrückenden schieben mit, die Plattform ist erreicht, man steht sich im Weg. Ein Ruck, ein Waggon wird angekoppelt, beinah ist das Gleichgewicht verloren, im Ohr liegt ein Schlag auf Metall und ausklingend ein Pfeifen. Besser die Mappe auf den Koffer legen, mit dem Körper fixieren, vielleicht findet sich später ein Sitzplatz, jedoch erstmal unmöglich, mit dem Gepäck durch die Enge.
Zugeworfen wird die Tür von außen, eine Reihe von Türschlägen kündigt die Abfahrt an.
Draußen vor dem Fenster steht eine Frau, mit den Augen sucht sie den Zug ab, sie könnte eine Mutter sein. Als sich innen und außen die Augen kreuzen, bleibt nichts hängen, weder drinnen noch draußen. Der Zug fährt.
Er bewegt sich für die Passagiere nach unüberschaubaren Gesetzen, unabdinglich. durchstreift er breites Schienengelände. Im hell erleuchteten Gegenzug müsste man sitzen, ein andrer, eine andere sein, erwartet werden.
In das Vokabelheft schauen, schauen sollen, die Zeit nützen, puella non laborat, immer wieder an das denken, was man hätte sagen sollen, so oder so oder so.
Draußen auf dem Land ist es dunkel, die Bahnhöfe sind beleuchtet, aber wer will denn schon diesen Zug nehmen?
Es sind Gesichter, schnell da, schnell weg an einem Sonntagabend in Oberbayern.
Am Ankunftsbahnhof Endstation, es wartet das Sammeltaxi. Es fliegt, vorbei an heimeligen Gaststätten, unterhalb des Kalvarienbergs mitten hinein in die Eisburg.
Gelobt sei Jesus Christus, stillschweigend, Käsebrot, Kastenbett.
Gewöhnliche Tage
Nachts wach werden und die volle Blase spüren, warten bis sich im Zwölferschlafsaal jemand rührt , leise anfragen, ob sie auch aufs Klo muss. Durch den Klassenraum in den großen Schlossgang, hinunter in den Zwischenstock auf der Hintertreppe, kalt ist es und: aufgepasst, dass Nachthemd oder Bademantel nicht nass werden. Schnell wieder ins Bett, es könnte sich schon bald im Dunkeln mit einem heftigen: „Gelobt sei Jesus Christus“ die Nacht beenden, alles sofort und ohne Umstände, waschen unter dem Nachthemd, Bettuch spannen, Federn schütteln und Kissen quadratisch ausrichten. Dann in Zweierreihen in die Kirche, wenn man so fromm ist, warum sabbert man dann so in den Mundwinkeln, Herr Benefiziant, einmal nur soll er sich am Altar umdrehen und nackt sein, vorne ganz nackt, er soll sich dann schämen und die ganze Welt wäre verändert und etwas völlig Neues könnte geschehen und vielleicht wäre dann alles besser.
Muckefuck, Mischbrot und Vierfruchtmarmelade, nur wer ‚Aufstrich’ hat, kann besser frühstücken. ‚Aufstrich’ bekommt man von Verwandten geschickt oder bringt ihn aus den Ferien mit. Mit ‚Aufstrich’ kann man handeln, Freundschaften gewinnen oder sie beenden. ‚Aufstrich’ kann man nicht klauen, denn entweder sind alle im Speisesaal oder dieser ist abgesperrt.
‚Aufstrich’ ist in der Sitzbank unter festen Plätzen mit Nummern.
Also, so eine Nummer ist zum Beispiel 199, sie steht auch in allen Wäschestücken, dem Turnsack, dem Zahnputzzeug und man kann die Nummern auch antreten lassen.
Der Schulraum ist flankiert von zwei Schlafsälen, die tagsüber versperrt sind. Gegenüber der hohen Tür ebenso hohe Fenster, sie blicken in hohe Bäume, unten eine Zufahrt, dann wieder in Bäume. Rechts neben der Schlafsaaltür ein Podest mit Katheter und Stuhl, dahinter eine Schiebetafel und der Kartenständer.
Nach dem Frühstück hört man die externen Schülerinnen über die Schlosstreppe durch die Mitte des Gebäudes herauf kommen, sie laufen und rutschen auf glänzenden Steinquadraten bis zum Ende des Gangs ins Klassenzimmer. Alles hallt, sie sind laut, manchmal riechen sie nach Schnee oder Kuhstall. Externe haben keine Nummern, wenn sie am Morgen kommen, wird der Tag frischer, wenn sie am Mittag gehen, sind in ihren Schultaschen versteckt Briefe ohne Zensur, Münzen für Marken, Münzen für Apfelkraut oder Kunsthonig, manchmal auch eine Telefonnummer mit dem Auftrag jemand anzurufen.
Der Klassendienst steht in der halboffenen Tür, erspäht er Lehrer, gibt er Zeichen, alle gehen auf ihre Plätze, es wird leiser, der Klassendienst kündigt beim Eintritt der Lehrkraft den Namen an und die Klasse grüsst und wiederholt den Namen.
Dann ist Schule ohne Feuerzangenbowle, mit Angst im Nacken vor Blamagen, mit Glück bei Anerkennung, alles im Rhythmus einer schnarrenden Schulglocke. Heimlich werden Zettel verschoben, heimlich gelacht, vermeintlich etwas im Ranzen oder unter der Bank gesucht. Auf Anruf muss man aufstehen und sprechen, auch wenn man nichts zu sagen hat. Deutschheft gelber Einband, Algebra blau, Geometrie grün, Geographie braun, alles hat da zu sein, alles gleich, nur die Externen haben alles ein bisschen anders.
Nach der Schule Toilettengang, Händewaschen und anstellen zu Mittagessen, warten bis die Klasse aufgerufen wird und aufgerufen wird die Klasse nur, wenn sie “ stillschweigend “ ist. Im Warten noch Hände herzeigen, wer schmutzige Finger hat oder sich nicht still verhält, bekommt keine Post. Die Aufsichtsnonne steht dann wortlos vor demjenigen und fixiert ihn, dabei klopft sie auf ihre brustlose schwarze Brust, wo hinter dem Wall aus gefälteltem Stoff die angekommenen Grußkarten und Briefe stecken bleiben.
Hinter den Stuhl stellen, die Bänkler neben ihrem Gegenüber, beten, vorbeten, beten, hinsetzen.
Wer Küchendienst hat, schiebt den großen Wagen mit den Suppenschüsseln in den Speisesaal, stellt auf lange Tische immer zwei Terrinen mit Schöpfkellen, die soviel fassen, dass ein Teller randvoll wird. Nonnen teilen aus. Es muss aufgegessen werden. Glück hat, wer von Mater Adelgunde bekommt, sie hat zarte Finger und macht die Kellen nicht so voll.
Adelgundes Hände stecken in schwarzen Halbhandschuhen, sie sind wächsern rot, der Nagelgrund ist hellblau. Ihre Fingerkuppen biegen sich leicht nach oben, sie dirigiert den Kirchenchor, nachts fliegt sie heimlich zur heiligen Cäcilie.
Ist “die Suppe beendet” schauen alle zur Mater, die sitzt erhöht, läutet das Aufmerksamsglöckchen, liest von einem Zettel die Anordnungen zum weiteren Tagesverlauf ab, benennt diejenigen, die sich vergangen haben am Regelwerk des Internats, liest das Strafmaß vor. Das Glöckchen läutet wieder, jetzt darf beim Essen leise gesprochen werden, ausgenommen sind die benannten Sünder.
Die Aufsichtsnonne verteilt die Post, behält zurück, was „Ungehörigen“ zugedacht ist. Nicht so schlimm, nur am Geburtstag arg, alles Liebe bleibt im Ordenskleid, ein Ärgertag, kein Festtag!
Glockenton Silencium:
Lieber Gott wir danken Dir für Speis und Trank,
wir wissen, dass Du uns das alles gibst,
weil Du Deine Kinder liebst.
Nach dem Essen eine Stunde Rekreation, ausgenommen ist der Spüldienst. Geschirr gewaschen wird im Gang vor dem Essraum in riesigen Steinbecken. Wer klein ist bekommt einen Schemel, alle bekommen harte, weiße Gummischürzen umgebunden. Wer Dienst hat, muss nicht mehr an der Rekreation teilnehmen, darf die verbleibende Zeit im Schlosspark verbringen. Er darf sich in den Monaten mit “r” nicht auf die Bänke setzen, sich nur auf Wegen bewegen. Die anderen gehen, wenn es das Wetter zulässt, in Zweierreihen um den Schlossweiher oder müssen Völkerball spielen. Das auch bei Regen, dann aber in der Turnhalle. Wer spät gewählt wird, ist nicht gefragt. Hierarchie überall, rauf oder runter ohne Geländer.
Danach Studierzeit in den Schulbänken, Hausaufgaben machen, leise sein, nicht abschreiben.
Aber wenigstens spicken, welche Seite im Buch man aufschlagen muss, von wo bis wo und wie?
Ein Vogel im Baum und weiter?
Pause, Dünnmilchkakao und trockener Hefezopf im Studier-und-Klassenzimmer, der Schlafsaal mit der Waschgelegenheiten wird aufgesperrt, jeder der Kakao möchte, holt seinen Zahnputzbecher, trinkt, bringt ihn zurück und spült ihn ab, der Schlafsaal wird wieder verschlossen.
Weiter mit den Hausaufgaben, gute Schüler dürfen malen oder lesen.
Eine Stunde vor dem Abendessen wieder Rekreation. Alle Fenster auf, die Schultaschen einräumen, an die Haken der Bänke hängen, je zwei Bänke zusammen schieben, sich einen Platz erobern an einem Vierertisch mit Favoriten und leise sein. Der “Tisch” der am leisesten ist und am schnellsten Ordnung gemacht hat, darf als erstes ein Spiel wählen.
Mikado, Mühle. Mensch ärgere Dich nicht.
Dann Abendessen, es will so Festes nicht den Hals hinunter, trockener Quark mit Pellkartoffeln oder Mischbrot mit Edamer ohne Butter. Besser nichts trinken, damit man in der Nacht nicht raus muss. Schweigend kauen, brav sein, keinesfalls will man voraus ins Bett geschickt werden, im Bademantel durch die Klasse müssen, während noch Geschichten von guten Menschen, wie dem Mädchen Bernadette, vorgelesen werden.
Abendlied, ausziehen, ins Nachhemd umziehen, Zähne putzen, waschen, alles so geschickt, dass man sich und andere nicht am Leib sieht. Unterzeug und Kleid, die taubenblaue Schulschürze, die Schuhe, alles wird sauber gelegt und gestellt, findet Platz auf und unter dem Stuhl am Fußende des Bettes. Hineinlegen, Hände auf die Bettdecke, auch im Winter.
„Gelobt sei Jesus Christus!“ – „In Ewigkeit Amen“, das Licht ist abgedreht, Nachtruhe.
Absolutes Schweigegebot, bei kleinen Geräuschen wandert schon ein Aufsichtstaschenlampenlichtstrahl über die Betten. So tun, als schläft man schon. Wenn man die Augen fest zudrückt, blitzen unzählige Sterne, Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch kein einziger fehlet. Der liebe Gott hat gar keine Lust auf das, was man beichten soll, es ist ihm lästig, nur der Benefiziant will es wissen. Ob Gott den Benefizianten mag?
Am Freitagnachmittag werden nacheinander Vierergruppen von den Hausaufgaben weggerufen zum Duschen, dadurch entfällt eine Rekreation. Mitnehmen muss man neben dem Bademantel und dem Waschbeutel den Sack mit der Schmutzwäsche aus dem Nachtkästchen. Man wirft ihn im Vorraum der Duschen in einen Metallwagen. Gewaschen wird nur, was eine Nummer trägt, die anderen Teile bekommt man ungewaschen zurück. Gibt man außergewöhnlich Verschmutztes, wie eine verpieselte Unterhose in die Wäsche, meldet die Waschschwester das den Matres, man wird zur Rede gestellt. Deshalb muss man so eine Hose heimlich in der Toilette im Handwaschbecken kalt waschen, fest auswinden und in einen trockenen Waschlappen stecken. Den Waschlappen muss man so lange verstecken, bis der Schlafsaal aufgesperrt wird. Dann tut man so, als ordne man das Bett und legt dabei die Hose unter die Matratze auf das Metallbettgestell zum Trocknen. Später kann man diese Hose in den Wäschebeutel geben, dann ist man froh.
Vier Duschen nebeneinander mit Vorplatz zum Ausziehen, alle nebeneinander, man kann sich nicht sehen, nur die Waschschwester sieht alle. An den Knöpfen drehen bis es nicht zu heiß oder zu kalt ist, Kopf und Körper einseifen, schneller meine Damen, abspülen, abdrehen, warten bis die Schwester mit dem kalten Wasserschlauch kommt. Von den Füßen aufsteigend, der feste Strahl. Schauer durch Kälte, Schauer, wenn die Schwester oben kurz zwischen die Schenkel trifft.
Samstagnachmittag sind die Nonnen nicht sichtbar, sie verschwinden durch eine dunkle Holztür in die Klausur. Absolut verbotenes Terrain für alle, die nicht zum Orden gehören. Selbst Mutproben enden an dieser Tür. Am Samstag nach dem Mittagessen sind nur die “Weltlichen” da, sie haben den Auftrag, Ordnung zu machen und dann was “Schönes”, wie basteln oder einen Ausflug. Aber zunächst kontrollieren sie Schulranzen, Federmäppchen, Nachtkästchen, die Schränke im Gang. Gut, wenn Frl. Hösl das macht, sie ist schon genau, aber auch nett. “Das bedarf der Nachbesserung” ist besser als ein ganzes Fach mit einer Armbewegung auf den Boden zu leeren, wie es der Trampel macht. Der Trampel ist groß und dick, er hat eine Männerbrille mit kurzsichtigen Kreisen schief im Gesicht hängen, der Trampel wird nie heiraten, so wie das Frl. Hösl.
Der Trampel schaut überall hinein, er findet auch Unterhosen, die ganz vorne in den Stiefeln stecken, er gibt Mädchen neue Namen, sagt oft einen ganzen Nachmittag Ferkel zu jemand.
Das Frl. Hösl macht eine Schnitzeljagd an der Isar mit Aufgaben und Rätseln, wer gewinnt bekommt Schokolade. Dann singen alle “Edelweiß, Edelweiß” und die Augen vom Frl.Hösl sind wässrig. Wenn sie verheiratet ist, sagt sie, kommt sie nicht mehr ins Schloss, weil sie dann kochen muss und einen Garten hat und vielleicht auch ein Baby.
Am Samstagabend nach dem Essen ist Verkaufsstunde. Die Mater sitzt bei offener Kammertür hinter einem Tisch mit Süßigkeiten, Toilettenartikeln und Schreibwaren. Sie führt Buch über Taschengeldkonten. Je nach dem, was die Eltern bei ihr einbezahlt haben, können sich deren Kinder nun davon etwas kaufen. Beliebt sind Maoam, Negerküsse, Bärendreck in Rollen und Tütchen mit Ahoi-Brausepulver.
Nur zwei Teile darf man wählen. Soll man’s essen, soll man’s tauschen, soll man’s als Währung horten ?
Sonntags wird später geweckt, man zieht das gute Kleid an und geht mit allen nüchtern zur Messe. Oh Lamm Gottes, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach, meine Schuld, meine Schuld, meine allergrößte Schuld. Der Christus klebt am Gaumen des Kindes und geht nicht weg, jetzt bloß nichts Böses denken, wenigstens nicht so lang er da ist, nichts denken, nicht lachen müssen, wenn ein Ministrant im Rocksaum hängen bleibt, Jesus Entschuldigung, so fromm sein wollen wie das Lieserl aus der Haushaltungsschule, die schon einen kleinen Klosterschleier trägt, lieb sein wollen und fleißig, dass man nicht so was denken muss wie, ob man mal vor der Messe am Kloboden leckt und dann zur Kommunion geht und dann würde das Allerfürchterlichste passieren, das würde Jesus sich nie gefallen lassen, erst würde er sich heraushusten lassen, dann würden alle Zähne verfaulen, nicht denken, nicht denken. Aber er weiß es ja schon, weil er alle Gedanken kennt. Die Mutter Maria ist traurig, sie sagt “ach” und legt dem Kind die Hand auf den Kopf, damit es ruhig wird. Sie will nicht, dass das Kind “Meerstern, ich Dich grüsse” mitsingt, es soll stumm sein und ruhig bleiben. Das Kind bewegt die Lippen, tut singend, damit die Matern nicht sehen, dass es nicht singen darf.
Nach der Messe ist Frühstück: süßer Milch-Malzkaffe mit frischem Hefezopf, gut.
Dann kann man im Klassenzimmer lesen oder Briefe schreiben an Verwandte. Das Kind hat ein Blatt vor sich: Liebe Eltern, ich habe zwar eine Fünf geschrieben, aber eine mit plus. Hier ist schönes Wetter, heute Nachmittag dürfen wir um den Schlossweiher gehen. Wegen Tintenflecken und schlechter Schrift muss das Kind den Brief noch mal schreiben, sonst schickt die Mater ihn nicht ab.
Der Brief ist fertig, auch das Kind ist zufrieden, es malt noch eine Blumenbordüre drauf. Es will sich anstrengen, alles ab jetzt besser machen, vielleicht ist auch alles nicht so schlimm. Auch das mit Jesus nicht, weil es doch nur gedacht war. Wahrscheinlich ist das Gott sowieso egal, Gott ist eben der Höchste, den kann man nicht beleidigen, weil er nicht für die Menschen gestorben ist.
Wenn Kinder krank sind, kommen sie ins Krankenzimmer. Sie liegen in einem Zwischengeschoß bei der Klausur und da ist es warm und gemütlich. Vier Betten, Bilder von Schneebergen und Wasserfällen, ein Korb mit Büchern zur Auswahl für Kinder, die lesen wollen. Auch Pippi Langstumpf liegt im Korb. Bei der Schwester Martha darf man Pippi Langstrumpf lesen, bei der Mater Canisia nicht, weil Pippi soviel lügt.
Das Essen im Krankenzimmer ist viel besser, wenn man aber gar nicht krank ist, sondern nur so tut, darf man nicht viel davon essen, damit es die Martha nicht merkt.
Fieber kann man machen. Die Spitze des Thermometers muss man an der Wolldecke reiben, hat man zu fest gerieben, muss man es wieder runter schütteln, 38,2 ist gut. Wenn der Doktor kommt, muss man sich anstrengen krank zu sein, Augen reiben, damit sie rot werden, Hände reiben, Stirn reiben, Luft anhalten, vor dem Pulsfühlen. Obwohl die Schwester Martha gesagt hat, dass sie glaubt, dass alle nur die Schulaufgabenkrankheit haben, gibt sie den Kindern Bärentraubenblättertee. Kranksein ist immer besser mit jemand aus der Klasse, sonst ist es langweilig, wenn es aber wegen der Schule sein muss, geht man auch allein, auch im Sommer, wenn man mit dem Fräulein Hösl zum Baden gehen könnte.
Alle aus dem Kloster, die Schwester heißen, haben weiße Hauben und sind nicht so streng, wie die Matern mit den schwarzen Hauben.
Die Matern unterrichten auch, die Schwestern nie.
Schwester Ancilla putzt und heizt die Außenöfen der Klassenzimmer auf dem Schlossgang. Sie spricht nicht, wenn man sie grüsst, nickt sie. Ancilla zieht einen riesigen Korb über den Steinboden, man hört sie die Gitterroste der Öfen hin und her rütteln, Holz nachwerfen, die eisernen Ofentüren öffnen und schließen.
Wenn man nachts gegen vier Uhr zum Klo muss, schaufelt Ancilla schon Asche in ihren Blechkübel. Wer nicht in der Schule gut war und dazu noch nicht hübsch ist, muss ins Kloster gehen und Ancilla werden. Bitte nicht, bitte lieber später in Amerika sein, vielleicht bei einer Familie, die einen Hund wie Lessie hat, da könnte man dann sicher auch auf dem Sofa fernsehen und sich nicht im Speisesaal den Hals hinten einkürzen, weil der Fernseher so hoch hängt und man das Konzil anschauen muss. Langweilig, weil der Papst immer nur betet mit erwachsenen Ministranten. Ob die Männer im Vatikan alle goldene und rote Priester-Kleider anhaben? Vielleicht nicht alle, in Lengries haben die Katholischen ja auch normales Gewand, oder eben Tracht. Und bei der Firmung? Sicher sind da in Rom die Kleider der italienischen Mädchen nicht schwarz mit Häkelkragen, sondern bunter. Überhaupt, wenn Amerika später nicht geht, dann eben Italien, Eisverkäuferin am Gardasee, das wäre schön. Man könnte ja abhauen, wenn man etwas älter ist, jetzt noch nicht, man müsste schon ein bisschen mehr wie eine Frau aussehen. Aber man könnte sich jetzt schon etwas vorbereiten, üben mit Pech und Schwefel – sich und denen beweisen, dass man stark sein kann, gerade da, wo kein Erwachsener hindenkt.
So ist es eine Mutprobe nachts im Gang hinter der Ancilla her zu schleichen, von Türnische zu Türnische bis zur Haupttreppe, um dann wieder leise zurück zu laufen. Aber es ist eine noch größere, die Haupttreppe zum Parterre zu nehmen. Hinunter, vorbei an der schweren Holztür des Saals, deren Fenster dunkelblind das Kind verfolgen, rechts um die Ecke hinter die riesigen Säulenkachelöfen zum Vorratsholz. Dort schnell ein Scheit nehmen als Beweis der Tat und zurück, zurück!
Diesmal nicht, Geräusche kommen aus dem Klausurtrakt, das Kind biegt sich in die Nische hinter den kalten Kachelofen und atmet flach. Keine der Nonnen, die vorbei in die Kirche ziehen, bemerkt es. Dann wird es wieder ruhig, das Kind ist lange starr.
Es möchte gehen, aber die Beine wollen nicht. Warm läuft es an den Beinen herunter, hinein in die Hausschuhe. Das Kind weiß nichts vom Rückweg und will keine Mutprobe mehr machen.
Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann? Wenn er aber kommt, dann laufen wir davon. Nie mehr will das Kind davon laufen müssen vor einer Horde von Krampussen. Nie mehr will das Kind fallen, nie mehr sollen andere Kinder vor Angst schreiend über das Kind fallen, es treten, nie mehr sollen schwarzgesichtige, fellbekleidete Unwesen mit ihren Ketten rasseln dürfen und mit den Ketten an die Beine von Mädchen schlagen dürfen, nie mehr darf eine Kette ein Ohr treffen von dem Kind, das schon am Boden liegt. Nie mehr soll der Nikolaus mit diesen Gesellen in der versperrten Turnhalle Kinder beschämen. Äpfel, Nuss und Mandelkern, behalte Dein Zeug, Du bist nicht der Heilige, der die Kinder liebt und rettet, Du bist der Benefiziant.
Sind Katholische böse, können sie beichten und dann glauben sie, ist alles ungeschehen. Sie lügen deshalb auch und sind scheinheilig. In einer Mischehe lügt deshalb nur, wer katholisch ist, Protestanten dürfen nicht lügen, weil sie nicht beichten können. Wenn sie doch gelogen haben oder etwas noch Schlimmeres gemacht haben, sind sie traurig. Eine Mutter sitzt dann im Dämmerlicht und raucht eine Zigarette und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Mama! Papa! das Kind will nicht mehr im Schloss bleiben. Aber es geht nicht anders. Vielleicht wäre es anders, wenn das Kind ein anderes wäre.
Vor dem Schloss steht ein Auto, es sieht aus wie das Auto des Vaters. Das Kind steht am Fenster und schaut hinunter. „Hausaufgabenzeit“ heißt die Mahnung, da schaut man nicht aus dem Fenster, da schaut man ins Heft. In der Pause ist das Auto nicht mehr da.
Mitten in der Woche ist keine Besuchszeit, das gilt nicht für die Matern, wenn sie den Eltern sagen müssen, wie faul ein Kind ist.
Die Zeit soll man nützen. Das Kind hört „Per aspera ad astra“, es weiß, dass das ungefähr heißt: Durch das Raue zu den Sternen oder durch das Dunkel zu den Sternen. Das Kind lernt in der Schule, dass Sterne Lichtjahre entfernt sind.
Am liebsten geht das Kind in den Chor, es singt gut. Seine Stimme ist ganz nah mit den anderen zusammen, im Kanon zieht es die Gruppe mit und alle anderen verlassen sich darauf. Lustige Lieder machen lustig und bei feierlichen Liedern ist ein Glanz im Raum. So gerne wie das Kind “großer Gott wir loben Dich” singt, erfreut es Gott, dieses Lied ist ihm nicht egal.
Es ist ihm auch nicht egal, wenn ein Kind sehr ungerecht behandelt wird. Er merkt sich das und macht, wenn es soweit ist, einen Ausgleich. Da ist sich das Kind ganz sicher, nur Kleinigkeiten interessieren Gott nicht. Dem Vater und der Mutter sind Ungerechtigkeiten, von denen das Kind erzählt schon egal, sie helfen dem Kind nicht, sagen nur, dass es schon immer einen Grund gibt, wenn man in irgendeine Sache verwickelt ist, und der Vater sagt, dass man jetzt erst recht gut sein muss, um es den anderen zu zeigen. Das Kind will aber niemand etwas zeigen, es fühlt sich allein. Und ganz allein, wenn es selber nicht versteht, um was es geht.
Die Schöne aus der Realschule ist geflogen, rausgeflogen, die Jüngeren vom Gymnasium mochten sie sehr, sie lächelte immer wie eine Frau, so sein wie sie, so angezogen sein, so eine Frisur wie sie haben, und – sie konnte „hey Baby“ singen und mit den Fingern schnappen.
Warum war sie mitten im Schuljahr auf einmal nicht mehr da? Es war wegen der Geschichte mit der Karotte. Hatte sie die geklaut und gegessen, oder hatte sie ein Kaninchen im Schlosspark, oder hatte sie zu einer Mater gesagt: Du dumme Karotte?
Kreuzverhör – die Kinder, die sich darüber laut Gedanken machten, werden nachts aus den Betten geholt, bezichtigt, dass sie andere aus der Klasse verderben würden und dass man jetzt andere Seiten aufziehen wird und dass die armen Eltern wieder traurig sein werden, dass man nicht nur so faul in der Schule ist, sondern auch noch so! Wie? Und was hat das mit einer Karotte zu tun? Nach drei Tagen mit nächtlichen Verhören weiß das Kind mehr. Es ist schändlich aufgeklärt und schämt sich, dass sie das Wort Karotte im Mund hatte. In diesen Tagen war es auch, dass das Mädchen Blut in der Hose hatte, es war so braun, dass es erst nicht wie Blut aussah und das Mädchen in die Krankenstation zur Schwester Marta ging, um Kohletabletten zu bekommen. Gute Schwester Martha, Du hast dann alles schön erklärt, eben dass, Frauen bluten müssen, damit sie Kinder bekommen können und dass man Kinder nicht ohne Heirat bekommt soll, weil Gott das nicht gut findet. Das Kind hat dann in Schönschrift einen Brief an die Mutter geschrieben, ihr mitgeteilt, was geschehen ist und die Mutter hat einen Brief zurück geschickt, in dem stand, dass sie so geweint hat, weil das Kind jetzt eine Frau geworden sei.